Nach bestem Wissen und Gewissen…?

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Waren Sie auch schon einmal in der verzwickten Situation, nicht zu wissen, für welche medizinische Behandlung oder naturheilkundliche Therapie Sie sich entscheiden sollen? Oder ob und wie Sie Ihre Ernährung oder Ihr Bewegungsverhalten neu ausrichten müssen?

Falls Sie nicht ausschließlich Ihrem impulsgesteuerten Bauchgefühl vertrauen wollen, kommen Sie gar nicht darum herum, auf der Basis einer Flut von verlässlichen und auch unzuverlässigen Informationen zu entscheiden, was nun eigentlich richtig und gut für Sie ist. Jedoch schneller als Ihnen lieb ist, werden Sie mit solchen oder ähnlichen Situationen konfrontiert: Ihr behandelnder Arzt drängt auf eine wissenschaftlich gut dokumentierte Behandlung, während Ihr Nachbar Ihnen gerade in schillernden Farben erzählt hat, dass er mit genau dieser Therapie keinerlei Erfolg hatte, sondern nur unter den Nebenwirkungen litt.

Was nun?
Es mag ein schwacher Trost sein, dass Sie mit diesem Dilemma nicht allein sind. Auch Ihre Ärzte, Ihre Ernährungsberater und Psycho-Onkologen (um im Rahmen des Tumorzentrums zu bleiben) stehen täglich vor genau der gleichen Aufgabe: aus den verschiedensten Informationen herauszufiltern, welche Maßnahme sie Ihnen mit gutem Gewissen anraten können. Grundsätzlich sollten alle Therapievorschläge wissenschaftlich begründet und ihre Wirksamkeit bewiesen, im Fachjargon „evidenzbasiert“, sein. Wie Sie weiter unten lesen werden, ist es schwer, diesem Anspruch immer gerecht zu werden.

Die Lösung?
An dieser Stelle lüften wir heute das „Geheimnis“, wie wir in der naturheilkundlich komplementär-medizinischen Beratung am Tumorzentrum München vorgehen, um Ihnen sinnvolle Empfehlungen zu geben, bei denen auch Ihre individuelle Situation zum Tragen kommt.

Vor jeder Entscheidung für oder gegen eine Therapie stehen drei Kardinalfragen:

Wird sie voraussichtlich helfen?

Kann sie schaden?

Bewege ich mich innerhalb oder außerhalb evidenzbasierter, wissenschaftlicher Medizin (EBM)?

Wie weiter unten beschrieben, ist die seriöse Beantwortung dieser Fragen insbesondere im Bereich der Naturheilkunde oft höchst schwierig. Um nicht von den hohen Ansprüchen paralysiert zu werden, haben David Sackett und Mitarbeiter (1, 2) ein dreiteiliges Modell entwickelt, an das auch wir uns anlehnen, um mit Ihnen gemeinsam zu möglichst guten um umsetzbaren Entscheidungen zu kommen:

1. Vernünftiger Gebrauch bestmöglicher wissenschaftlicher Studienergebnisse
Auf den meisten Gebieten der Komplementärmedizin mangelt es nach wie vor an wissenschaftlich „robusten“ Studiendaten, die zu einer zuverlässigen Therapieentscheidung führen. So mühsam und frustrierend es auch sein mag: bis diese Daten vorliegen, muss sich der seriöse Arzt bzw. Therapeut mit den bisher verfügbaren Studienergebnissen auseinandersetzen und sie für die individuelle Behandlungssituation bewerten.
Bei uns im Tumorzentrum ist hierbei eine der wichtigsten Leitlinien: Je unklarer der Nutzen der geplanten Maßnahme, desto zuverlässiger muss zumindest deren Unbedenklichkeit nachgewiesen erwiesen sein.

2. Klinische Expertise des Therapeuten
Habe ich ausreichend Kenntnis und Erfahrung in dem, was ich tue? Woher weiß ich das?
Diese Fragen sind für den Therapeuten manchmal schwer zu beantworten, da es keine eindeutigen Kriterien gibt, ab wann jemand „ausreichend Kenntnis und Erfahrung“ besitzt. So bleibt es letztendlich dem einzelnen Therapeuten überlassen, sich stets aufrichtig zu hinterfragen, hinterfragen zu lassen und Behandlungserfolge mit Misserfolgen in realistische Beziehung zu setzen.

3. Ihre persönlichen Erfahrungen und Präferenzen
Welche Erwartungen und Vorerfahrungen haben Sie als Patient oder Angehöriger? Was nützt es, wenn wir Ihnen beispielsweise eine Mistelinjektionstherapie vorschlagen, Sie jedoch unter Nadelangst leiden oder bisher nur Negatives über Misteln gehört haben? Wollen und können Sie Ihre Haltung ändern, falls die Mistel ausgerechnet in Ihrer Gesundheitssituation wissenschaftlich und erfahrungsmedizinisch vielversprechend ist?

Die Entscheidung für oder gegen eine Therapie basiert also auf Einflussfaktoren aus all diesen drei „Evidenz-Sphären“. Je nach Situation erhalten die jeweiligen Bereiche jedoch unterschiedlich starke Gewichtung:

Um beim obigen Beispiel zu bleiben: Basierend auf Studiendaten (Punkt 1) und der Erfahrung Ihres ärztlichen Beraters (Punkt 2) entscheiden Sie, Ihre bisherigen Vorbehalte (Punkt 3) gegenüber der Misteltherapie zunächst hintenanzustellen, und beginnen mit der Therapie. In einem anderen Fall sind Sie z.B. zunächst von hochdosierten sogenannter Vitamin B17/Amygdalin-Gaben überzeugt (Punkt 3), da Ihre Mutter der Ansicht ist, davon geheilt worden zu sein. In der Beratung hören Sie jedoch vom Arzt (Punkt 2), dass Amygdalin in hoher Dosierung nicht nur unwirksam ist, sondern sogar gefährliche toxische Nebenwirkungen hervorrufen kann (Punkt 1). Sie entscheiden, die Finger davon zu lassen und wirksamere und ungefährlichere Maßnahmen zu ergreifen: beispielsweise sich sportmedizinisch beraten zu lassen, um Ihr Wiedererkrankungsrisiko nachweislich (Punkt 1) deutlich zu vermindern. 

Navigieren alle Beteiligte bewusst und offen durch diese drei „Evidenz-Sphären“, kommen sie immer wieder zu unterschiedlichen Antworten auf ähnliche Fragestellungen. Das hat nichts mit mangelndem Wissen oder Erfahrung oder gar Unwillen zu tun, sondern zeugt von dem Ringen um individuelle und gute Therapieentscheidungen.

Sie sehen: Genau wie Sie handeln auch wir nach bestem Wissen und Gewissen und sind dabei in hohen Maßen voneinander abhängig.

Referenzen:

  1. Sackett DL et al. BMJ 1996 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2349778/pdf/bmj00524-0009.pdf)
  2. Sackett DL et al. Evidence-based medicine: How to practice and teach ebm, Churchill Livingstone, 2000

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