Barrieren im Kopf überwinden

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„Als Krebspatient haben Sie die Möglichkeit, einen Schwerbehindertenausweis zu beantragen!“  – diese Information bekommen fast alle meine PatientInnen in der Beratung von mir. Die Reaktionen darauf sind allerdings sehr unterschiedlich. Sie gehen vom erleichterten Aufatmen – „Das ist ja toll, damit habe ich es im Alltag bestimmt etwas leichter“ bis hin zu Abwehr: „Was soll ich mit einem Behindertenausweis, ich bin doch nicht behindert!“.

Diese sehr unterschiedlichen Haltungen, vor allem aber das Abblocken, zeigen mir, dass bei dem Thema (Schwer-)Behinderung noch erheblicher Informationsbedarf besteht. Diesen möchten wir mit unserem Blogbeitrag ausräumen.

Schon allein sprachlich gesehen ist das Wort „behindert“ problematisch. An sich wertungsfrei, beschreibt es lediglich eine Beeinträchtigung. Zitiert man aber den Duden, ist die Sachlage eine andere: „behindert“ wird dort definiert als „infolge einer körperlichen, geistigen oder psychischen Schädigung beeinträchtigt“ [1]. Und schon sieht es nicht mehr so neutral aus, denn mit einem Kinderwagen und einem Kleinkind an der Hand fühlte ich mich beispielsweise beim Einsteigen in die Tram auch oft „behindert“ und war froh über barrierefreie Zugänge zu Geschäften, öffentlichen Verkehrsmitteln und Bahnhöfen. Stellen damit laut Duden meine Kinder eine Schädigung dar?

Noch deutlicher wird der negative Beigeschmack des Wortes „behindert“, wenn es als Schimpfwort verwendet wird. Besonders in der Jugendsprache hört man oft den Ausdruck „das/der ist ja voll behindert“. „Behindert“ wird hier als Synonym für dumm oder falsch, generell als abwertend benutzt, wie Dr. Lisa Pfahl, Professorin für Disability Studies und Inklusive Pädagogik am Institut für Erziehungswissenschaften an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck aus ihrem Arbeitsalltag weiß. Sie empfiehlt daher „das ist behindert“ durch den Ausdruck „das ist behindernd“ [2] zu ersetzen. Mit dieser kleinen Veränderung bekommt die Aussage eine ganz andere Konnotation.

Krebserkrankung und Schwerbehindertenausweis

Rein statistisch gesehen ist der Besitz eines Schwerbehindertenausweises keine Seltenheit. Zum Jahresende 2017 gab es in Deutschland rund 7,8 Millionen Ausweisinhaber, was 9,4 % der deutschen Bevölkerung entspricht. Das bedeutet, dass fast jeder zehnte Deutsche einen Schwerbehindertenausweis besitzt. Mit 88 % wurde der allergrößte Teil der Behinderungen durch eine Krankheit ver­ursacht (vgl. [3]).

Das Sozialgesetzbuch 9 §1 (2) definiert ganz pragmatisch: „Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie (…) an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht“ [4].

In den meisten Fällen ist eine Krebserkrankung keine sogenannte sichtbare Behinderung, das heißt, sie fällt nicht sofort ins Auge, wie etwa ein Rollstuhl. Dennoch erleben viele PatientInnen psychische und/oder physische Einschränkungen durch ihre Erkrankung oder als Folge der Behandlung.

Ich bestärke daher meine PatientInnen, einen Ausweis zu beantragen, denn ob und wo man die Vorteile des Ausweises individuell nutzt, kann jeder für sich entscheiden; es gibt ja keinen Zwang, den Ausweis vorzulegen. Je nach Einstufung, d.h. Grad der Behinderung, bringt er allerlei Vorteile und Vergünstigungen. Diese Leistungen können den Weg zurück in den Alltag, besonders in den beruflichen, erleichtern, wie z.B.:

  • erhöhter Kündigungsschutz am Arbeitsplatz
  • Anspruch auf Zusatzurlaub
  • Früherer Beginn des Renten- bzw. Pensionsbezuges
  • Niedrigere Eintrittspreise für öffentliche Einrichtungen wie Museen oder Schwimmbädern
  • Verschiedene Steuererleichterungen
  • Geringere Mitgliedsbeiträge in bestimmten Verbänden und Vereinen wie etwa dem ADAC (vgl. [5])

Eine sehr gute und verständliche Auflistung der Vorteile hat die Deutsche Ilco e.V. erarbeitet: https://www.ilco.de/info-bereich/infomaterial/ (unter Faltblätter bestellbar).

Praktische Tipps zum Behindertenausweis

Um einen entsprechenden Ausweis zu erhalten, ist ein Antrag beim zuständigen Versorgungsamt (für Bayern: https://www.zbfs.bayern.de/menschen-behinderung/ausweis/antrag/) erforderlich. Dieses überprüft anhand des Antrags und der medizinischen Befunde den Grad der Behinderung, kurz GdB genannt. Der Ausweis wird bei einer Krebserkrankung in der Regel für mindestens fünf Jahre ausgestellt (sogenannte Heilsgewährung).

Einige praktische Tipps zur Antragsstellung:

  • Bei der Frage, welchen GdB Sie beantragen: Immer mindestens 50% und somit eine Schwerbehinderung eintragen; das Amt entscheidet dann eigenständig über die tatsächliche Höhe.
  • Alle Erkrankungen – nicht nur die Krebserkrankung -, die zu Beeinträchtigungen führen, angeben, z.B. Diabetes, Bluthochdruck, orthopädische Erkrankungen etc.
  • Vorhandene ärztliche Unterlagen sowie Reha-Berichte in Kopie beilegen.

Gerne unterstütze ich Sie bei der Beantragung und beantworte Ihre Fragen zu diesem Thema.

Zum Abschluss gebe ich Ihnen als Anregung noch ein Zitat von Wolfgang Schäuble mit: „Im Grunde sind alle Menschen behindert; der Vorteil von uns Behinderten ist allerdings, dass wir es wissen“.

Quellen:

  1. Bibliographisches Institut GmbH. Duden. 2019 Zugriff 10.10.2019; URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/behindert.
  2. taz, „Behindert, aber nicht nur“. taz, 2014.
  3. Statistisches Bundesamt (Destatis), Pressemitteilung Nr. 228: 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen leben in Deutschland. 2018.
  4. Das gesamte Sozialgesetzbuch SGBI bis SGBXII. 2019, Regensburg: Walhalla Fachverlag.
  5. Krebshilfe, D., Wegweiser zu Sozialleistungen. 2019, Bonn: Stiftung Deutsche Krebshilfe.

5 Kommentare zu „Barrieren im Kopf überwinden“

  1. Sehr geehrte Frau Amann, ich habe gehört, daß man bei einem GdB von 90 im öffentlichen Verkehr (MVV) eine Ermäßigung von 70% erhält. Stimmt das? Wenn ja, wohin muß ich mich da wenden? (Adresse)
    Besten Dank für Ihr Engagement für uns Krebskranke mit den Newslettern etc.
    Mit herzlichen Grüßen E.Binsteiner

    1. Sehr geehrte Frau Binsteiner,

      laut Aussage des MVV gibt es nur eine Regelung bzgl. Schwerbehindertenausweis mit Merkzeichen (z.B. G oder aG). Werde mich aber nochmal kundig machen und Ihnen dann mailen.

      Viele Grüße,

      Angelika Amann

    2. Sehr geehrte Frau Amann,
      bitte informieren Sie mich auch über das Ergebnis Ihrer Nachfrage beim MVV und über die Ermäßigungen.
      Mit herzlichen Grüßen
      G. Schulla

      1. Lieber Herr Schulla,

        Ihre Nachfrage zeigt uns, dass die Recherche beim MVV für einige von Interesse ist:
        Folgende Vergünstigungen konnte ich konkret für Sie recherchieren:
        auf Nachfrage beim MVV wurde mir mitgeteilt, dass es nur Vergünstigungen für Schwerbehinderte gibt, die über ein Merkzeichen verfügen: darunter fallen die Merkzeichen G (gehbehindert), aG (außergewöhnlich gehbehindert), H (hilflos), BI (Blind) oder gehörlos). Sie haben mit einem grün-orangefarbenen Schwerbehindertenausweis mit Wertmarke (diese kostet 80 Euro pro Jahr oder 40 Euro pro Halbjahr und ist beim Zentrum Bayern Familie und Soziales erhältlich) Anspruch auf Freifahrt mit den MVV-Verkehrsmitteln im Gesamtnetz.
        Bei der Bahn gibt es ab einem G.d.B von mind. 70% vergünstigte BahnCards. Diese vergünstigte BahnCard gibt es auch für Personen ab 60 Jahren und für Personen, die eine volle Erwerbsminderungsrente beziehen.

        Mit freundlichen Grüßen

        Angelika Amann

  2. Pingback: Beratung oder Psychotherapie – was ist der Unterschied? | Blog: Wissen gegen Krebs

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