Ich wollt´, ich wär´ kein Huhn …

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Die junge Frau öffnete die Transportkiste und nahm eine Kreatur in ihren Arm, die nur auf den zweiten Blick an ein Huhn erinnerte. Es ist Sonntagmorgen 8.00 Uhr, ich befinde mich auf einem Parkplatz am Stadionring in Kempten, der um diese Zeit normalerweise menschenleer ist. Heute wird er belebt von einem Dutzend engagierter Menschen, meist junge Familien mit Kindern, die sich hier verabredet haben.

Hühner_Bodenhaltung
Bild 1: Erster Kontakt mit Natur und Sonne nach Bodenhaltung

„Rettet das Huhn e.V.“

Was führt sie hierher, an einem Sonntagmorgen, statt gemütlich zu Hause im Bett liegenzubleiben? Vor einer Woche wusste ich noch nicht, dass es so etwas wie “Hühnerretter“ gibt. Rein zufällig hörte ich in einer der unzähligen Talkshows von dem Verein „Rettet das Huhn e.V.“. Viele von Ihnen denken dabei vielleicht an militante Weltverbesserer, die nachts in Hühnerställe einbrechen und den Hühnern einen derartigen Schrecken einjagen, dass sie dabei die Feder verlieren, wenn nicht schlimmer. Sowas gibt es auch! Hier jedoch versammeln sich engagierte Leute aus unterschiedlichsten Berufsgruppen, die legal mit Landwirten zusammenarbeiten und tatsächlich frühmorgens gegen 3 Uhr vorsichtig Hühner einsammeln, weil das Federvieh um diese Zeit schläft und nicht mit Stress reagiert.

„Aussortierte“ Hühner

Doch was sind das für Hühner? Es handelt sich um „aussortierte“ Exemplare. Ihre maximale Legeleistung ist vorbei, sie endet aus biologischen Gründen mit ca. 15 Monaten. Ab dann gilt ein Huhn nicht mehr als profitabel und wird getötet; oft wird es zu Tiernahrungsmitteln verarbeitet. Diese Praxis war mir bisher nicht bekannt. Die Lebenszeit, die diesen ganz normalen Hühnern zugestanden wird, ist schon sehr kurz, wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche Lebensdauer eines Huhnes bei ca. 5-10 Jahren liegt!

Bodenhaltung

Huhn_ohne_Federn
Bild 2: Zustand nach Bodenhaltung

Doch zurück zu dem Huhn, das die junge Mitarbeiterin von „Rettet das Huhn  e.V.“ in den Armen hält. Warum es so zerrupft aussieht? (Bild 2) Das Huhn kam aus sogenannter „Bodenhaltung“. Die heute gängigen Haltungsformen haben wir schon in einem vorhergehenden Blog („Ei, Ei, Ei!“) beschrieben. Das Problem ist, dass  die Hühner bei der üblichen Form der Bodenhaltung zu wenig Platz haben, sich ungehindert zu bewegen (9 Hennen/m²), wodurch es zu chronischem Stress kommt.

Das führt unweigerlich zu kleineren und größeren Verletzungen der Hühner und zu Verhaltensstörungen vom Federpicken bis hin zum Kannibalismus. Dazu kommen durch die unnatürliche Haltung (Ammoniakgase und Staubbelastung in den Ställen) und die extreme hohe Eierproduktion (überzüchtete Legeleistung) eine große Bandbreite an anderen Leiden wie Fußballengeschwüre, Parasitenbefall und Erkrankungen des Legeapparates, Eileiterentzündung oder Bauchfellentzündung, die fast schon als typische „Berufskrankheiten“ der Legehenne gelten. Die Bezeichnung „Bodenhaltung“, unter der sich der Verbraucher ein glücklich scharrendes Huhn vorstellt, ist leider weit entfernt von einer wirklich artgerechten Tierhaltung. Bei Bodenhaltung werden die Tiere ausschließlich in Hallen gehalten, bei künstlicher Beleuchtung (oft von unnatürlich gedämpfter Intensität und Farbe, um Aggressionen vorzubeugen) und geringer Einstreu. Als wäre das noch nicht genug, gibt es allerdings auch Betriebe, die diesen Quadratmeter noch profitabler gestalten, indem sie einen zusätzlichen Etagen-Gitterboden einziehen, so dass dann auf einem Quadratmeter 18 Hühner untergebracht sind.

Ökologische Hühnerhaltung

Aus meiner Sicht ist die einzige gerade noch akzeptable Haltungsform die Bio- bzw. ökologische Haltung. Hier leben zwar auch 6 Hühner pro Quadratmeter in einem Stall, aber immerhin ist etwas Auslauf vorgesehen. Idealerweise, aber leider nicht immer, ist dieser Auslauf mit Büschen und Bäumen bestückt. Eine freie Grasfläche ist für die Hühner nämlich eine absolute Stresssituation, weil sie instinktiv Angst vor Greifvögeln haben. Die Landwirte wissen das in der Regel, aber für die Privathalter ist es möglicherweise ein nützlicher Hinweis.

Hühner und ihr Sozialverhalten

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mich beschämt diese Form der Tierhaltung und Nahrungsmittelproduktion, die auch noch staatlich subventioniert wird, zutiefst! Meine Vorbehalte wurden durch Recherchen zur Verhaltensbiologie von Haushühnern leider noch verstärkt. Hier die Fakten: Hühner haben eine Reihe von visuellen und räumlichen Fähigkeiten, die anderen Vögeln und Säugetieren ebenbürtig sind. Hühner besitzen ein gewisses Verständnis für Zahlen; diese grundlegenden arithmetischen Fähigkeiten teilen sie mit anderen Tieren. Hühner sind fähig zur Selbstkontrolle und Selbsteinschätzung, und diese Fähigkeiten deuten auf ein Bewusstsein hin. Hühner haben die Fähigkeit zu denken und können logische Schlüsse ziehen. Hühner sind in ihrem Sozialverhalten hoch entwickelt, unterscheiden zwischen Individuen und lernen sozial, ähnlich wie Menschen. Hühner haben komplexe negative und positive Emotionen, sie kennen emotionale Ansteckung und weisen einige Anzeichen für Empathie auf [1].

Diese Erkenntnisse sind noch wenig bekannt und die Erforschung der Emotionen und kognitiven Fähigkeiten der Vögel bringt ständig neue Erkenntnisse. Bei Raben und Papageien fand man zum Beispiel heraus, dass ihre kognitiven Fähigkeiten, also Ihre Denkfähigkeiten, auf dem gleichen Niveau wie von Menschenaffen sind! [2, 3]

Wenn man diese Erkenntnisse ernst nimmt, müsste man eigentlich automatisch seine Einstellung zu Hühnern und den Produkten, die wir ihnen verdanken, ändern.

„Regionales Superfood“ Ei

Wenn man das Wunder bedenkt, dass aus einem befruchteten Ei ein Küken wird, dass also alles für seine Entwicklung Notwendige im Ei enthalten ist, sollten Eier eigentlich als „Regionales Superfood“ oder zumindest als eines unserer wertvollsten und kostbarsten Lebensmittel betrachtet werden (siehe auch nochmal unseren Blog-Artikel „Ei, Ei, Ei!“). Wenn man sich vor Augen hält, dass die Geflügelhaltung 70% der Biomasse aller auf der Welt lebenden Vögel ausmacht (über 50 Milliarden Hühner werden auf der Welt jedes Jahr zur Eier- und Fleisch Produktion gezogen, davon derzeit in Deutschland ca. 45 Millionen) [4], gibt es nur eine Konsequenz. Wir müssen unser Essverhalten überdenken und Maß halten. Dieser Grundsatz sollte übrigens für die gesamte sogenannte Nutztierhaltung gelten (und stellt nebenbei einen wichtigen Faktor für den Klimawandel dar)!

Was können Sie als Verbraucher tun?

Hühner_Stall
Bild 3: nach ca. 1 Woche in neuer Haltung

Derzeit ist nur der Kauf von Bio-Eiern zu empfehlen, nach dem Motto „Lieber weniger, aber in bester Qualität“. Die Privathaushalte verbrauchen 53% der 15,45 Milliarden gelegten Eier in Deutschland pro Jahr! Der Pro-Kopf-Verbrauch ist gegenüber dem Vorjahr stark gestiegen, auf 239 Eier (andere Produkte, die Ei enthalten, nichtmit eingerechnet). Nur 12% der verbrauchten Eier kommen aus Biohaltung [5, 6]. So ganz „das Gelbe vom Ei“ ist allerdings auch die Bio-Hühnerhaltung nicht immer, denn mit der Größe der Betriebe nehmen mit höheren Bestandszahlen auch die Verhaltensstörungen und Verletzungen zu. Idealerweise findet man einen Hof in der Umgebung, dessen Hühnerhaltung sich in einem akzeptablen Rahmen hält, und kauft dort direkt die Eier. Die vegane Ernährungsweise ist eine weitere mögliche Antwort auf die unerträglichen Zustände der nicht-artgerechten Nutztierhaltung, aber, auch sie hat ihre Fallstricke. Dazu mehr an anderer Stelle!

Happy End

P.S. Für die „gerupften Hühner“ gab es noch ein Happy End (Bild 3, ca. 1 Woche im neuen Gehege). Die Vereinsmitglieder hatten 350 Hühner eingesammelt, die alle an die auf dem Parkplatz Wartenden abgegeben werden konnten. Ich selbst habe 12 Hühner mitgenommen. Zum Glück habe ich genügend Platz und konnte diesem Hühnerstamm ein adäquates neues Heim einrichten. Allen Zwölfen geht es bisher gut! Allerdings sind diese Rettungsaktionen nur ein Tropfen auf den heißen Stein, und der Großteil der Hühner in den „Eierfabriken“ führt nach wie vor ein tristes, kurzes Dasein. Das zu ändern, sollte jedem mitfühlenden Menschen ein Anliegen sein.

Mit scharrenden Grüßen,

Ihr Volkmar Nüssler & Team sowie unsere Gastbloggerin Auguste von Bayern

Quellen:

  1. Marino L. Thinking chickens: a review of cognition, emotion, and behavior in the domestic chicken. Animal Cognition 2017; 20: 127-147.
  2. Lambert ML, Jacobs I, Osvath M, von Bayern AM. Birds of a feather? Parrot and corvid cognition compared. Behaviour 2019; 156: 505-594.
  3. Osvath M, Kabadayi C, Jacobs I. Independent evolution of similar complex cognitive skills: the importance of embodied degrees of freedom. Animal behavior and cognition 2014; 1: 249-264.
  4. Bar-On YM, Phillips R, Milo R. The biomass distribution on Earth. Proceedings of the National Academy of Sciences 2018; 115: 6506-6511.
  5. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: https://www.bmel-statistik.de/ernaehrung-fischerei/versorgungsbilanzen/eier/ (Zugriff: 08.09.2021)
  6. Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung: Bericht zur Markt- und Versorgungslage mit Eiern 2021, April 2021, https://www.ble.de/SharedDocs/Downloads/DE/BZL/Daten-Berichte/Eier/2021BerichtEier.pdf;jsessionid=78E9B0E4A6A234E00615472505CE220C.1_cid335?__blob=publicationFile&v=2 (Zugriff: 08.09.2021)

Bildquelle: Rettet das Huhn e.V. https://www.rettet-das-huhn.de/

4 Kommentare zu „Ich wollt´, ich wär´ kein Huhn …“

  1. Sehr geehrter Herr Nüssler,
    ich finde es toll, daß Sie als Vorbild auftreten.
    Doch der einzelne Verbraucher ist aufgefordert zu überlegen wie er sich ernähren will. Da ist oft weniger von guter Qualität mehr als viel von Billigprodukten. Jeder ist aufgerufen die Verantwortung für seine Ernährung zu übernehmen. Bei mir in der Nähe, Frohnloh, ist ein Bauer der Freilandhühner und Eier hat und ich es ist immer ein Genuß ein Ei zu essen.
    Viele Grüße
    Barbara Dehoff

    1. Prof. Dr. med. Volkmar Nuessler

      Vielen Dank für Ihren wertvollen Kommentar. Wir sind genau wie Sie der Meinung, dass die Qualität und die Verantwortung ein entscheidender Baustein im Gefüge der Ernährung sind. Es ist eine Freude zu hören, dass Sie eine gute Hühnerhaltung unterstützen. Lassen Sie sich die Eier weiterhin schmecken.
      Herzlichst, Ihr Volkmar Nüssler

  2. Danke, Herr Prof. Nuessler, für diese interessante Abhandlung, die ich mehrfach weiterleiten werde, weil das wirklich ein trauriges Kapittel ist, das geändert werden sollte, und zwar auch von der Politik aus.

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