Palliativmedizin ist Zuhören

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Im letzten Blogbeitrag widmeten wir uns den Grundzügen und Angeboten der Palliativmedizin. Heute lernen Sie einen führenden Palliativmediziner und dessen Ausführungen zu seinem Fachgebiet kennen. Zusammen mit Landtagspräsident a.D. Alois Glück führte Prof. Dr. Borasio ein Zwiegespräch zum Thema: „Die Vorbereitung auf das Sterben ist die beste Vorbereitung für das Leben“. Die Veranstaltung fand im Rahmen der Themenreihe „Tod und Sterben“ statt, die die Traunsteiner Stadtbibliothek organisiert. Prof. Dr. Borasio gilt als einer der führenden Palliativmediziner Europas. Ihm ist es maßgeblich zu verdanken, dass sich heutzutage jeder Medizinstudent in Deutschland während seiner Ausbildung mit der Begleitung Sterbender und ihrer Familien auseinandersetzen muss. [1]

Und recht schnell wird auch im Dialog dieses Abends deutlich, dass die Qualität der Ausbildung eines von Borasios Hauptanliegen ist. Er weist auf eine Studie hin, die nachweist, dass die Empathiefähigkeit, d.h. das Einfühlungsvermögen, der Medizinstudenten während des Studiums abnimmt. Hinzu kommt, dass die Studierenden vermehrt eine Sprache lernen, die nicht geläufig ist („Fachchinesisch“) und die man oft als Patient kaum versteht. Aber gerade die direkte und indirekte Kommunikation zwischen Arzt und Patient ist das Herzstück in der Palliativmedizin. „Die Wünsche, Nöte und Sorgen der Patienten und Angehörigen wahrnehmen – an sich sollte das jeder Arzt können!“ so formuliert es Borasio sehr treffend. Hierfür ist eine verständliche Ausdrucksweise unabdinglich, die keine zusätzliche Hürde zwischen Arzt und Patient aufbaut.

Auch in anderer Hinsicht stellt ein Palliativmediziner das gängige „Arzt-Modell“ infrage. Den Ärzten wird in erster Linie beigebracht, Krankheiten zu heilen, das ist ihr Beruf. Ein Palliativmediziner muss umdenken. Er muss „auszuhalten, das Leiden nicht grundsätzlich lindern zu können, wodurch ein Gefühl der Hilflosigkeit und Unfähigkeit entsteht“, ein eher ungewohntes Gefühl für einen Arzt, mit dem er sich auseinandersetzen muss.

Borasio nimmt an diesem Abend seinen Berufsstand immer wieder kritisch unter die Lupe: „Manchmal müssen wir Ärzte erkennen, dass wir nicht die Wichtigsten unter den Behandelnden sind; vielleicht weiß eine andere Berufsgruppe besser, was der Patient braucht“. Diese Fähigkeit zur interprofessionellen, gleichwertigen Zusammenarbeit ist die Chance in der Palliativmedizin, unterschiedliche berufliche Qualifikationen wertzuschätzen und anzuhören. Erst dadurch ergibt sich die Möglichkeit für den Patienten, die bestmögliche Behandlung zu erfahren. Auf die Spitze getrieben formuliert Borasio es ironisch: „Man sollte zum Äußersten schreiten und den Patienten selbst fragen“, denn er steht im Mittelpunkt des Geschehens und weiß womöglich am besten, was er braucht. Das habe Borasio in zwanzig Jahren als Palliativmediziner gelernt: sich selbst immer mehr zurückzunehmen, seine Vorstellungen darüber, was gut oder schlecht für den Patienten ist, zurückzustellen gegenüber den Äußerungen des Patienten, denn „Palliativmedizin ist Zuhören.“

Konkret sieht er die Aufgabe des Palliativarztes darin, akute Beschwerden auf ein erträgliches Niveau zu senken. So öffnet man den Horizont für die Dinge, die der Mensch noch klären muss oder will, „denn unter Atemnot kann sich der Sterbende nicht mit seinem Leben auseinandersetzen“. Ohne diese Einschränkungen erlangt ein Patient wieder Selbstbestimmung, kann Ressourcen freisetzen und diese nutzen: „Die Menschen denken bei Palliativmedizin an Sterben und Tod, dabei geht es um Lebensqualität, Selbstbestimmung und Menschenwürde“. Palliativmedizin ist der beste Schutz vor der doppelten Gefahr der Über- sowie der Untertherapie am Lebensende.

Zum Abschluss bringt Borasio seine Gedanken noch einmal auf den Punkt: „Die Medizin der Zukunft wird eine hörende sein oder gar keine“, und das gilt nicht nur für die Palliativmedizin.

Sowohl Prof. Dr. Borasio als auch Prof. Dr. Feddersen, der im vorherigen Artikel erwähnt wurde, durfte ich bei Vorträgen erleben. Ihr durch und durch positiver, wertschätzender Umgang mit dem Thema Palliativmedizin hat mich persönlich sehr beeindruckt. Mit ihrer bejahenden Art stehen beide Professoren für eine patientenzentrierte, palliative Versorgung, die sich komplett den Bedürfnissen des Betroffenen verschreibt.

Zu den Referenten:

Alois Glück, CSU-Politiker, ehemaliger Landtagsabgeordneter und Landtagspräsident im Bayerischen Landtag sowie von 2009-2015 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Glück ist darüber hinaus Initiator des Netzwerks Hospiz Südostbayern. Er zeichnet sich durch sein vielfältiges Engagement für die Hospiz- und Palliativ-Versorgung, besonders im Chiemgauer Raum, aus. Derzeit engagiert sich Glück für den Bau eines Hospizes in Bernau, um eine stationäre Lücke im Chiemgau zu schließen. Dafür werden die Spenden an diesem Abend auch verwendet.

Prof. Dr. Borasio, Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität Lausanne (Schweiz) und Lehrbeauftragter für Palliativmedizin an der TU München. Er war von 2006 bis 2011 Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität München, dort wurde er 2010 zusätzlich Lehrstuhlinhaber der Stiftungsprofessur Spiritual Care. Seit März 2011 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität Lausanne und Leiter der Palliativ-Care-Abteilung am Universitätsspital Lausanne.

Quellen:

  1. Borasio, G.D., Über das Sterben. 2012, München: C.H. Beck oHG.

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