Positiv denken? Heute mal nicht!

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In vielen Artikeln und Gesprächen wird zurzeit die Frage diskutiert, wie wir die Corona-Krise positiv nutzen können. Das mag zwar gut gemeint sein, aber – heute nicht! Bei mir zu Hause geht der positive Nutzen nämlich tagtäglich im Balanceakt zwischen Home-Office und Home-Schooling flöten. Mein Bedarf an gut gemeinten, positiven Ratschlägen ist gedeckt, und ich bin gerade unterwegs zu einem Ausflug ins Jammertal.

Solch ein Bedürfnis nach Negativität erlebe ich auch immer wieder in den Gesprächen mit KrebspatientenInnen und ihren Angehörigen, wenn sie mit Gefühlen wie Angst, Unsicherheit, Trauer, Wut oder Hoffnungslosigkeit konfrontiert werden. Oft tut es ihnen im Gespräch gut, erst einmal alles im wahrsten Sinne „rauszulassen“, alles so richtig „blöd“ zu finden und loszuschimpfen. Auch Tränen, die lange unterdrückt wurden, fließen zuweilen in Strömen. Diese negative Gefühls- und Gedankenwelt hat ihre Daseinsberechtigung, es ist wichtig, sie zuzulassen und sich mit ihr auseinandersetzen. Daher will ich meinen heutigen Blogbeitrag dem Bereich dieser negativen Gefühle widmen.

Grundsätzlich ist es nicht möglich, keine Gefühle zu haben, ob positive oder negative; sie gehören laut Vaitl zu unserer Lebenswirklichkeit „wie die Luft zum Atmen“. Sie sind in spezifischen Hirnstrukturen und körperlichen Prozessen verankert und entstehen meist als Reaktion auf äußere Reize (1). Emotionen werden jedoch unterschiedlich wahrgenommen. Laut dem Psychologen und Hirnforscher Richard Davidson ist „wie jeder Mensch einen unverwechselbaren Fingerabdruck hat (…) auch unser emotionales Profil etwas Einzigartiges“ (2). Das heißt, der Umgang mit Gefühlen, insbesondere auch das Zulassen von Gefühlen, ist individuell. Während positive Gefühle meist durchwegs erwünscht sind, werden negative Gefühle eher abgelehnt oder sogar verdrängt. Diese Unterdrückung des emotionalen Ausdrucks und Verhaltens wird als „Suppression“ bezeichnet (3). Man kaschiert sozusagen die erlebte negative Emotion, indem man sie nicht zeigt, da sie von einem selbst oder/und von der Außenwelt unerwünscht ist. Innerlich wird dieses Gefühl aber trotzdem erlebt.

Krebspatienten geraten dabei oft in einen inneren Zwiespalt, wenn von ihnen eine Lebenseinstellung nach dem Motto „Positiv denken!“ verlangt wird. Dadurch kann laut der Deutschen Krebsgesellschaft für PatientInnen ein immenser Druck entstehen. Als „Tyrannei des positiven Denkens“ (4) hat die amerikanische Begründerin der Psychoonkologie Jimmie Holland dieses Phänomen bezeichnet. Zudem besteht bei manchen KrebspatientInnen die Befürchtung, dass negative Gedanken oder Gefühle gar die Ursache der Erkrankung sind oder sich zumindest schädlich auf den Krankheitsverlauf auswirken könnten. Diese Angst ist unbegründet (5). „Das Konzept der „Krebspersönlichkeit“ scheint zwar mehrheitlich aus den Köpfen verschwunden zu sein“, wie der Heidelberger Krebsinformationsdienst in einer Studie festgestellt hat. “Von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen seelischen Belastungen und Krebs scheinen dagegen viele Menschen überzeugt – auch ohne wissenschaftlichen Nachweis“ (6). Ein Grund für diese Annahme könnte sein, dass seelische Belastungen manchmal zu einem schlechteren Lebensstil – etwa Rauchen oder Bewegungsmangel – führen können und dadurch manche Krebsarten befördert werden. Dies ist aber der Lebensführung geschuldet und nicht der psychischen Komponente. Positive und negative Gefühle gehören zusammen und bilden in der Regel eine Balance, denn wie heißt es sprichwörtlich: Wo Sonne ist, ist auch Schatten. Das Unterdrücken von negativen Emotionen ist sogar als problematisch anzusehen: „Langfristig ist die häufige Anwendung von Suppression mit einer geringeren Lebenszufriedenheit und weniger Wohlbefinden verbunden“ (3). Es ist zudem sehr anstrengend, wenn das Umfeld nicht mitbekommen soll, wie schlecht es einem gerade geht. Es kostet viel Kraft, die eigentlich gerade während einer Krankheit besser anders genutzt werden sollte.

Zudem sind negative Gefühle, wie z.B. Angst oder Ekel, nicht an sich schlecht, da sie oft als „Frühwarnsystem“ (1) eine wichtige Funktion erfüllen. Für unsere Vorfahren war zum Beispiel das Angstgefühl lebenswichtig, um sich durch den Fluchtreflex vor Raubtieren und anderen Gefahren in Schutz zu bringen.

Die Wahrnehmung und das Zulassen von negativen Gefühlen haben demnach eine große Berechtigung. Auch Bettina Hitzer stellt in ihrem Buch „Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts“ fest: Optimismus lässt sich nicht verordnen (7).

Aber wie geht man am besten mit den negativen Gefühlen um?

Bis zu einem gewissen Grad sollte man ihnen einfach nachgeben, ein Kissen zum Ausweinen oder auch zum Reinboxen bereithalten, je nach Bedarf; das ist schon eine Empfehlung aus einem Kinderbuch (8). Je stabiler das Umfeld und die eigene psychische Verfassung sind, desto besser können PatientInnen auch mit negativen Gefühlen umgehen – eine Portion Resilienz hilft sicherlich dabei.

Bei schwer selbst steuerbaren negativen Gefühlen wie großer Angst oder Hilflosigkeit hilft oft ein Gesprächspartner. Eine Aufgabe, bei der Freunde oder Familienmitglieder allerdings zuweilen an ihre Grenzen kommen, denn das dabei erforderliche Aushalten, Zuhören und einfach Da-Sein kann sehr anstrengend sein, auch weil die Anteilnahme eines Nahestehenden diesen selbst sehr mitnimmt.

Eine Krebsberatungsstelle kann hierbei eine hilfreiche Alternative sein. Die BeraterInnen sind geübt darin, auch negative Phasen zu begleiten und mitzutragen. Ziel dieser Gespräche ist es zwar, letztendlich Lichtblicke am Ende des Tunnels in Aussicht zu stellen, aber im Vordergrund steht die Begleitung durch den Tunnel.

Um sich selbst emotional zu stabilisieren, rät Lisa Feldmann Barrett, Psychologieprofessorin an einer Universität in Boston, drei einfache Dinge: „Erstens, gesund essen. Zweitens, mehr schlafen. (…) Und der dritte Rat ist, sich regelmäßig körperlich zu bewegen. Diese Ratschläge mögen banal und abgedroschen klinken, aber vom biologischen Standpunkt aus gibt es keinen Ersatz für einen gesunden Lebensstil“ (9).

Diese grundlegenden Regeln – Essen, Schlafen, Bewegung -, die auch wir vom Tumorzentrum propagieren, sind nicht immer einfach einzuhalten. Insbesondere das Schlafen kann schwierig sein, wenn sich das negative Gedankenkarussell dreht. Hierzu gibt es zwei einfache Tipps, die Sie ausprobieren können.

Hängen Sie die Gedanken, die Sie nachts beschäftigen, imaginär an einen Luftballon und schauen Sie ihm zu, wie er durch Ihre Schlafzimmerdecke davon schwebt. Sobald der Gedanke oder die Emotion wiederkommen, einen neuen Luftballon nehmen. Ähnlich wie das altbewährte Schäfchenzählen kann dies helfen, loszulassen.

Für Menschen, die gern aktiv sind, empfiehlt es sich, auf dem Nachtisch Block und Stift bereitzuhalten und die nachts wiederkehrenden Gedanken oder Gefühle aufzuschreiben. Sobald Sie beim Versuch, wieder einzuschlafen, erneut auftauchen, verweisen Sie sie in Gedanken auf das Geschriebene und darauf, dass Sie sich morgen damit beschäftigen werden, aber nicht jetzt.

Frau Kerschbaum von der Ernährungsberatung wird Ihnen im Blog-Artikel nächste Woche einige Tipps und Tricks rund um die Beziehung zwischen Emotionen und gutem Essen geben.

Quellen:
(1) Dieter Vaitl, Blick ins Gehirn: Wie Emotionen entstehen, http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2006/3693/pdf/Vaitl_GU_39_06.pdf Abruf: 30.04.20.
(2) Richard Davidson, Die Grundbausteine der Gefühle, Psychologie heute compact, Nr. 59, 2019
(3) Sven Barnow, Intuitiv oder Rational: Welcher Typ sind Sie“ Psychologie heute compact, Nr. 59, 2019
(4) Hartmut Wewetzer, Auch Haie bekommen Krebse, https://www.tagesspiegel.de/wissen/gesundheitsmythen-mythos-krebs-hat-seelische-ursachen/9084076-3.html Abruf: 07.05.20
(5) Krebsgesellschaft, Umgang mit der Diagnose Krebs, https://www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal/basis-informationen-krebs/leben-mit-krebs/alltag-mit-krebs/umgang-mit-der-diagnose-krebs.html Abruf: 30.04.20
(6) Krebsinformationsdienst, Psychische Faktoren als Ursache für Krebs – was hält die Bevölkerung von dieser Theorie? https://www.krebsinformationsdienst.de/aktuelles/2017/news72-psychische-faktoren-krebsursache.php Abruf: 01.05.20
(7) Bettina Hitzer, Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 2020, Klett-Cotta
(8) Anna, Wagenhoff; Sigrid Leberer; Jule darf mal wütend sein, Carlsen Verlag, 2014
(9) Lisa Feldmann Barrett/Anette Schäfer, Wie Emotionen entstehen. Psychologie heute compact, Nr. 59, 2019

2 Kommentare zu „Positiv denken? Heute mal nicht!“

  1. Sehr herzlichen Dank für diesen guten und hilfreichen Beitrag, Frau Amann. Aus dem Leben und mit wissenschaftlichen Hintergründen unterstützt – sehr gut nachvollziehbar. Gute Tipps. Eine schöne Basis, um dieses Motto „gesund essen, schlafen, bewegen“ auch wirklich zu beginnen!
    Herzliche Grüße, Beate

  2. Pingback: Neujahrsgrüße 2021 | Blog: Wissen gegen Krebs

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