Progredienzangst – Behandlungsansätze und Strategien

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Progredienzangst ist die Angst vor Wiederauftreten, Ausbreitung oder Verschlechterung körperlicher Erkrankungen. Um die Klärung dieses eher „sperrigen“ Begriffs ging es in unserem ersten Artikel zu diesem Thema. Was aber gibt es für Ansätze und Strategien im Umgang mit dieser Angst? Dieser Frage möchten wir in diesem, zweiten Teil unseres Beitrags nachgehen.

Behandlungsansätze

Bei etwa 50% der KrebspatientInnen konnte in Studien nach Ende der primären Behandlung ein mittleres bis sehr hohes Maß an Progredienzangst festgestellt werden. Ausgehend von diesen Erkenntnissen wurden diverse psychotherapeutische Behandlungsansätze entwickelt und auf ihre Wirksamkeit untersucht [1]. Es zeigte sich dabei, dass psychotherapeutische Interventionen stark ausgeprägte Progredienzangst reduzieren können, so dass ein „gesundes“ Maß an Angst erreicht wird [2].

Diese psychotherapeutischen Ansätze können unterschiedliche Inhalte haben. Möglicherweise orientiert sich der Therapeut oder Therapeutin an der Behandlung von Angststörungen und führt sogenannte „Angstkonfrontationen“, auch „Expositionen“ genannt, durch [1]. Bei Höhenangst würde das bedeuten, Betroffene müssten sich mit therapeutischer Unterstützung der Höhe aussetzen, indem sie beispielsweise mit der Seilbahn fahren. Bei der Behandlung von Progredienzangst hingegen findet die Exposition in der gedanklichen Vorstellung statt. In einem ersten Schritt geht es darum, die Ängste zu konkretisieren und in eine hierarchische Abfolge (von „weniger angstauslösend“ bis „am schlimmsten angstbesetzt“) zu bringen. Danach wird unter therapeutischer Anleitung gemeinsam ein „Schlimmstenfalls-Szenario“ erarbeitet, bei dem mit lebhafter bildlicher Vorstellung und damit einhergehend starker emotionaler Aktivierung die Befürchtungen konkretisiert und „zu Ende gedacht“ werden sollen, was eine Reduktion der Angst bewirken kann [3].

Weitere Behandlungsansätze

Achtsamkeit

Weitere wichtige Bestandteile der Behandlung können beispielsweise die Förderung der Selbstwahrnehmung im Hinblick auf Angst sein sowie das Erlernen von achtsamkeitsbasierter Stressreduktion [1]. Beim Prinzip der Achtsamkeit geht es unter anderem darum, die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick zu lenken, was sich gerade vor dem Hintergrund der zukunftsorientierten Gedanken bei Progredienzangst als hilfreich erweisen kann. Die achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR) besteht meist aus einem 8-wöchigen Programm, in dem man grundlegende achtsamkeitsbasierte Meditationsübungen erlernt [4]. Mehr zum Thema MBSR und zu einer möglichen Studienteilnahme können Sie in unserem Artikel „Online-Studie zur Achtsamkeitsmeditation“ nachlesen.

Umgang mit Angst

Manchmal ist der zeitnahe Zugang zu psychotherapeutischer Unterstützung leider aufgrund begrenzter Ressourcen erschwert, oder die Progredienzangst ist nicht so ausgeprägt und einschränkend, dass sie behandlungsbedürftig ist. Daher fragen Sie sich möglicherweise, ob es auch Dinge gibt, die Sie selbst im Umgang mit Ihrer Angst tun können?

Gefühle – und somit auch Angst – werden meist auf drei Ebenen spürbar: körperlich, gedanklich und verhaltensbezogen. Körperlich macht sich Angst beispielsweise durch körperliche Symptome wie Schwitzen, Herzrasen und Schwindel bemerkbar. Gedanklich äußert sie sich meist durch Sorgen, Katastrophisieren und vermehrte Aufmerksamkeit auf Bedrohliches. Verhaltensbezogen führt Angst häufig zu Vermeidung, Flucht, Schonung oder Selbstberuhigung etwa durch Medikamente oder andere Substanzen.

Bewältigungsstrategien im Umgang mit Angst können sehr vielfältig sein und sich auf alle drei Ebenen beziehen. Generell kann alles, was das Gefühl von Unsicherheit reduziert oder die Bedeutung der angstbesetzten Situation verringert, hilfreich sein. Die Wirksamkeit dieser Strategien ist jedoch individuell [5]. Hier möchten wir Ihnen verschiedene Möglichkeiten vorstellen:

Was kann ich selbst bei Angst tun?

Angsttagebuch

  • Die eigene Angst beobachten: Sie können mehr Verständnis für sich selbst und die eigenen Gefühle bekommen, wenn Sie Ihre Angst genau beobachten. Was sind auslösende Situationen für Ihre Angst? Wie stark ist die Angst in welcher Situation? Welche Gedanken und Körperempfindungen haben Sie dann? Wie verhalten Sie sich? Was hat Ihnen in der Situation geholfen? Diese Beobachtung kann beispielsweise durch das Führen eines Angsttagebuchs erfolgen. Dadurch bemerken Sie womöglich auch unterschiedliche Intensitäten und Auslöser für Ihre Ängste und können sich auf kritische Situationen besser vorbereiten [6].
  • Informationen einholen: In unseren eigenen Vorstellungen neigen wir oft dazu zu katastrophisieren. Sich bei ÄrztInnen über die eigene Erkrankung, eventuell über das Rezidivrisiko und über körperliche Warnsymptome für ein Rezidiv aufklären zu lassen, kann im Umgang mit Ängsten oder bei Über-Aufmerksamkeit auf den Körper helfen [2, 5].
  • Aufmerksamkeitslenkung: Die Ausübung angenehmer, ablenkender Aktivitäten führt oft dazu, dass die Aufmerksamkeit von Angstvorstellungen abgezogen werden kann [3]. Für intensivere Angstsituationen (z.B. Wartezeit bis zur Befundbesprechung, etc.) können auch stark kognitiv beanspruchende Tätigkeiten (Sudoku, in 7er Schritten rückwärts zählen, das A-B-C mit verschiedenen Kategorien, wie z.B. Pflanzen, etc.) zur Ablenkung beitragen.
Gedanken hinterfragen

  • Eigene Gedanken hinterfragen: Es kann sowohl helfen, eigene Befürchtungen zu Ende zu denken, als auch andere Perspektiven und Szenarien als das „worst-case-Szenario“ zu berücksichtigen. Wie könnte die Situation denn bestmöglich ablaufen? Gibt es auch noch Möglichkeiten dazwischen? Teilweise sind auch Realitätschecks (Was spricht dafür? Was spricht dagegen? Wie wahrscheinlich ist es, dass diese Befürchtung eintritt?) und Umstrukturierungen der Gedanken (Gibt es auch noch andere Perspektiven, die ich einnehmen kann? Wie würden andere über diese Situation denken? Was würde ich einem guten Freund/einer guten Freundin in dieser Situation sagen?) im Umgang mit Katastrophengedanken hilfreich [3, 5].
  • Pläne machen: Manchen Menschen hilft es, sich frühzeitig auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Dazu kann beispielsweise gehören, sich um Dinge wie Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht zu kümmern [5]. Im Raum München können Sie für die Erstellung einer Patientenverfügung beispielsweise auch Unterstützung durch die Hospizvereine „Da Sein“ oder „Christophorus“ erhalten. Auch Krebsberatungsstellen können diesbezüglich unter Umständen weiterhelfen.
  • Achtsamkeit und Entspannungsverfahren: Im Umgang mit Zukunftsgedanken kann es, wie oben bereits erwähnt, hilfreich sein, durch Achtsamkeitsübungen ins Hier und Jetzt zurückzufinden. Auch Entspannungstechniken wie progressive Muskelentspannung oder autogenes Training können bei durch Angst ausgelöster Anspannung helfen [5]. Viele Krankenkassen bieten Zugang zu Entspannungsübungen oder entsprechenden Apps an, um diese Verfahren zu erlernen.
Kreative Tanztherapie
  • Die Angst ausdrücken: Mit jemandem über seine Gefühle und Gedanken zu sprechen (z.B. Freunde, Familie, Selbsthilfegruppe, Beratungsstelle) oder über Schreiben, Malen oder andere kreative Mittel die Angst zum Ausdruck zu bringen, kann für manche Personen ebenfalls eine Entlastung darstellen [5]. In Krebsberatungsstellen gibt es diesbezüglich oft spezielle Kurs- oder Veranstaltungsangebote. Ab April 2023 gibt es beispielsweise ein neues Gruppenangebot von lebensmut e.V. für Menschen mit einer Krebsdiagnose, die mit innerer Anspannung und Progredienzängsten kämpfen. Um diesen PatientInnen zu helfen und gemeinsam Strategien zu erarbeiten, mit denen das Ausmaß an Belastung durch diese Ängste reduziert werden kann, treffen sich 4-6 Betroffene in vier aufeinanderfolgenden Wochen einmal pro Woche für 2 Stunden unter der Leitung von Dipl.-Psych. Elena Sorokin (Tel.: 089/ 4400 – 74918; E-Mail: CCC.Lebensmut-kbs@med.uni-muenchen.de). Eine niedrigschwellige Möglichkeit, mit anderen Betroffenen in Kontakt zu kommen, bietet das Kontakt-Café der Krebsberatungsstelle des Bayerischen Roten Kreuz. In der kreativen Tanztherapie der Bayerischen Krebsgesellschaft können verschiedene Themen in Bezug auf die Krebserkrankung tänzerisch bearbeitet werden. Eine Anleitung, wie man auf ungeplante Situationen des Lebens reagiert, bieten die Improvisationsabende der psychosomatischen Beratungsstelle. Dies sind nur ein paar Beispiele der vielfältigen Angebote im Raum München. Auf den entsprechenden Homepages der Beratungsstellen können Sie sich über weitere Möglichkeiten informieren. Sollten Sie nicht aus München sein, können Sie sich in Krebsberatungsstellen bei Ihnen vor Ort oder über Volkshochschulen über mögliche Aktivitäten informieren.

Wo bekomme ich Unterstützung?

Wenn Sie als Betroffene(r) an Progredienzangst leiden und das Gefühl haben, dass Sie dadurch sehr beeinträchtigt sind, Ihre Lebensqualität und Alltagsfähigkeit darunter leiden, sollten Sie sich Unterstützung holen. Eine erste gute Anlaufstelle können beispielsweise psychosoziale Krebsberatungsstellen sein. Krebsberatungsstellen in Ihrer Nähe finden Sie über die Suchfunktion des Krebsinformationsdienstes. Sollten Sie sich unsicher sein, ob eine psychosoziale Beratung ausreicht oder doch eine Psychotherapie notwendig ist, können Sie die verschiedenen Optionen in unserem Blogartikel „Beratung oder Psychotherapie – was ist der Unterschied?“ nachlesen. Sind Sie auf der Suche nach ambulanten PsychotherapeutInnen mit psychoonkologischer Weiterbildung (Psychoonkologie-Praxen), bietet der Krebsinformationsdienst dafür ebenfalls eine Suchfunktion. Auch der ärztliche Bereitschaftsdienst kann unter der Nummer 116117 oder über die Homepage bei der Therapieplatzsuche weiterhelfen. Die eigene Krankenkasse oder die kassenärztliche Vereinigung Bayern (KVB) bietet ebenfalls Unterstützung bei der Vermittlung von spezialisierten PsychotherapeutInnen oder bei der Vergabe von Terminen für Erstgespräche.

Abschließen möchte ich mit Paulo Coelhos Worten:

„Angst wurde im selben Moment wie die Menschheit geboren. Und da wir sie niemals meistern können, müssen wir lernen, mit ihr zu leben – so wie wir gelernt haben, mit Stürmen zu leben.“

Zusammenfassend kann man also sagen, dass das Gefühl der Angst so alt ist wie die Menschheit an sich. Die Angst ist ein Teil von uns und quasi überlebenswichtig – auch wenn heute vielleicht selten ein Säbelzahntiger vor uns steht, sondern eher andere Situationen, wie zum Beispiel eine Krebserkrankung, Angst auslösen. Im ersten Teil dieser Reihe haben wir Ihnen die Funktion und Hintergründe der Progredienzangst etwas nähergebracht. Mit diesem Artikel wollen wir Ihnen Mut machen, mit der Angst zu leben und umzugehen, ähnlich wie mit einem Sturm.

Quellen

[1] Dinkel, A. (2018). Psychotherapeutische Ansätze zur Behandlung von Progredienzangst bei Patienten mit einer Krebserkrankung. Verhaltensther Verhaltensmed39, 198-210.

[2] Dinkel, A. (2022). Progredienzangst in der onkologischen Praxis: Kurzinterventionen können die Lebensqualität steigern. Deutsches Ärzteblatt Online. https://doi.org/10.3238/PersOnko.2022.05.20.02

[3] Dinkel, A., & Berg, P. (2023). Progredienzangst bei Krebspatienten. PiD – Psychotherapie Im Dialog, 24(01), 56–59. https://doi.org/10.1055/a-1817-8889

[4] Michalak, J., Blaeser, S., & Heidenreich, T. (2012). Achtsamkeitsbasierte Therapie. Psychiatrie Und Psychotherapie Up2date, 6(04), 245–256. https://doi.org/10.1055/s-0032-1304959

[5] Deutsches Krebsforschungszentrum in der Helmholtz-Gemeinschaft (dkfz): Leben mit Krebs. Krankheitsverarbeitung. Angst. Vom Umgang mit Angst: Die Zukunft zulassen. Abrufbar unter: https://www.krebsinformationsdienst.de/leben/krankheitsverarbeitung/angst.php. Letzter Zugriff am: 29.03.2023.

[6] Waadt, S. (2011). Progredienzangst: Manual zur Behandlung von Zukunftsängsten bei chronisch Kranken; mit 31 Tabellen. Schattauer Verlag.

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