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Wenn Betroffene mir in der Beratung davon berichten, dass sie Angst davor haben, dass der Krebs wiederkommt und ich diese Ängste dann mit dem Begriff Progredienzangst zusammenfasse, sind viele oft erst einmal überrascht. Einige Menschen mit Krebserkrankungen haben bereits sehr lange mit diesen Ängsten zu tun und wussten bisher nicht, dass es dafür ein spezielles Wort gibt. Was genau ist jetzt aber mit dem Begriff „Progredienzangst“ gemeint? Dieser Frage wollen wir heute nachgehen.
Progredienzangst – Definition
Was viele KrebspatientInnen im Verlauf ihrer Erkrankung beschäftigt, ist die Angst davor, dass ihre Krankheit weiter voranschreitet oder nach erfolgreicher Behandlung wieder auftritt. Das ist sogar einer der häufigsten Gründe, warum Betroffene auch nach abgeschlossener Behandlung in ambulanten Krebsberatungsstellen oder psychotherapeutischen Praxen PsychologInnen konsultieren [1]. Diese „Zukunftsängste“ bezüglich chronischer körperlicher Erkrankungen haben sich als ausgeprägte Belastung für die Betroffenen erwiesen und haben sich so einen eigenen Begriff, die Progredienzangst, erobert [2].
Genauer gesagt, bezeichnet Progredienzangst eine Angst, die aus der Erfahrung einer schweren, potenziell lebensbedrohlichen oder zu Behinderung führenden Erkrankung und ihrer Behandlung entsteht. Es ist demnach eine Angst, die als Reaktion auf eine Erkrankung entsteht und sich inhaltlich um ein mögliches Wiederauftreten, eine Ausbreitung oder Verschlechterung der Erkrankung sowie die Folgen der Erkrankung dreht. Die Funktion dieser Angst besteht darin, Kraft und Motivation zur Selbstfürsorge zu erzeugen [2].
Funktion der Angst als Grundemotion
In den Beratungsgesprächen erlebe ich es immer wieder, dass Betroffene als Anliegen formulieren, keine Angst mehr in Bezug auf die Erkrankung haben zu wollen. Dieser Wunsch ist durchaus nachvollziehbar, weil ängstlich zu sein sich sehr unangenehm anfühlt. Dennoch gehört Angst zu den Grundemotionen, und es ist sehr wichtig, dass wir sie in bestimmten Situationen spüren. Angst hat die Funktion, uns vor Gefahren und Bedrohungen zu warnen und uns dazu zu bringen, uns um uns selbst zu kümmern. Durch das Angstgefühl wird der Körper in Alarmbereitschaft versetzt. Wir beginnen, die Gefährlichkeit einer Situation und unsere Handlungsmöglichkeiten abzuwägen und geeignete Abwehrmaßnahmen zu treffen. Ist die Bedrohungssituation vorbei, verschwindet auch die Angst wieder [3]. Ein Leben ohne Angst ist nicht möglich bzw. wäre sehr schnell vorbei, da man dann beispielsweise ohne vorher zu schauen über die Straße laufen oder bei Beschwerden nicht zum Arzt gehen würde.
Insgesamt kann man also sagen, dass Angst zu haben eine normale Emotion, ja sogar lebenswichtig ist. Auf diese „gesunde“ Angst zielen auch viele Angebote zur Prävention und Vorsorge ab [2].
Angststörungen vs. „gesunde“ Progredienzangst
Im Gegensatz zum „normalen“ und „gesunden“ Gefühl der Angst, gibt es auch Ängste, die in eigentlich ungefährlichen Situationen auftreten bzw. Ängste, die in keinem angemessenen Verhältnis zur eigentlichen Bedrohung stehen. Teilweise treten Ängste auch unabhängig von konkreten Auslösern auf oder sie dauern auch nach der Gefahrensituation an. Derartige Ängste werden als Angststörung bezeichnet und gehen über ein „gesundes“ Angstgefühl hinaus. Für die Betroffenen sind sie meist sehr einschränkend und belastend, und daher auch behandlungsbedürftig [3]. Immer wieder haben KrebspatientInnen aufgrund ihrer Progredienzängste Sorge, dass sie jetzt eine Angststörung entwickelt haben. Der große Unterschied von Progredienzangst zu Angststörungen ist jedoch, dass Progredienzängste nicht irrational sind.
Ein gewisses Ausmaß an Progredienzangst stellt dementsprechend auch eine sinnvolle und normale Reaktion auf die reale Bedrohlichkeit der Krebserkrankung und Krebstherapie dar. Sie kann Energie und Motivation zur Selbstfürsorge produzieren und fördern und somit beispielsweise zu gesundheitsförderlichen Lebensstilveränderungen führen [2]. Zum Beispiel kann sie Betroffene dazu bringen, ihre Nachsorgetermine wahrzunehmen und das bisherige Ernährungs- und Bewegungsverhalten zu reflektieren und gegebenenfalls anzupassen.
Behandlungsbedürftige Progredienzangst
Das Wissen um die Gefährlichkeit einer Erkrankung kann jedoch auch dazu führen, dass die Progredienzangst so ausgeprägt und permanent wird, dass sie selbst zu einer zusätzlichen Belastung wird und ein „übermäßiges“ Ausmaß annimmt [2]. Wenn Angst und Progredienzangst normal sind und wichtige Funktionen erfüllen, wann ist dann aber das „zu viel“ an Progredienzangst erreicht? Kriterien für behandlungsbedürftige Progredienzangst sind folgende:
- Die Ängste und Sorgen entsprechen nicht mehr einem akuten Gefühl, das in Zusammenhang mit spezifischen Auslösern steht (wie z.B. dem nächsten Arzttermin), sondern entwickeln sich zu einer ständig andauernden Stimmung [2].
- Die Ängste und Sorgen drängen sich gegen den eigenen Willen auf, fühlen sich also unkontrollierbar an, sodass auch Ablenkung kaum noch möglich ist [1].
- Es besteht eine Über-Aufmerksamkeit oder Über-Empfindlichkeit gegenüber Köperbeschwerden. Das bedeutet, dass manche Betroffene aus Angst ihren Körper ganz genau beobachten und dementsprechend ein erhöhter Aufmerksamkeitsfokus auf körperlichen Veränderungen oder Körpersymptomen liegt. Dies führt dazu, dass auch kleine, unbedeutende körperliche Symptome verstärkt wahrgenommen und als bedrohlich eingestuft werden, was wiederum die Angst verstärkt [1].
- Dieses Ausmaß an Progredienzangst und die damit verbundenen Einschränkungen dauern mindestens 3 Monate an [4] und schränken die Lebensqualität nachhaltig ein bzw. verhindern einen normalen Alltag [2].
Für einige Menschen bringt es bereits eine erste Entlastung zu erfahren, dass das, was sie fühlen, auch benannt werden kann. Vielleicht konnte Ihnen dieser Artikel in dieser Hinsicht nützlich sein. In einem nächsten Beitrag, der am 24.04.2023 erscheint, werden wir darauf eingehen, welche Ansätze und Strategien es im Umgang mit Progredienzangst gibt.
Quellen
[1] Dinkel, A. (2022). Progredienzangst in der onkologischen Praxis: Kurzinterventionen können die Lebensqualität steigern. Deutsches Ärzteblatt Online. https://doi.org/10.3238/PersOnko.2022.05.20.02
[2] Waadt, S. (2011). Progredienzangst: Manual zur Behandlung von Zukunftsängsten bei chronisch Kranken; mit 31 Tabellen. Schattauer Verlag.
[3] Stiftung Gesundheitswissen: Was ist eine Angststörung? Abrufbar unter: https://www.stiftung-gesundheitswissen.de/wissen/angststoerung/hintergrund#:~:text=Eine%20Angstst%C3%B6rung%20besteht%2C%20wenn%20Angstreaktionen,psychisch%20und%20k%C3%B6rperlich%20sehr%20intensiv. Letzter Zugriff am 21.03.2023.
[4] Mutsaers, B., Butow, P., Dinkel, A., Humphris, G., Maheu, C., Ozakinci, G., … & Lebel, S. (2020). Identifying the key characteristics of clinical fear of cancer recurrence: an international Delphi study. Psycho‐oncology, 29(2), 430-436.
ja, aber es gibt auch patienten, die WISSEN, dass es zu einem progress kommen WIRD – ich lebe (immerhin!) mit stadium 4b mit hilfe einer zielgerichteten therapie, aber der krebs ist schlauer und wird neue mutationen ausbilden.
die scanciety wird von scan zu scan (in meinem fall mrt und ct alle drei monate) stärker, ist kaum auszuhalten.
verstehen kann das ausser betroffenen niemand, weil viele (alle?) denken: „jetzt geht es doch schon so lange gut (was heißt „lange“ in dem zusammenhang??), er/sie ist sicher bald überm berg“.
ich fühle mich allein, und ein(e) „normale(r)“ psychoonkologe ist mit meinem fall auch überfordert – außer „leben sie im heute“ höre ich nichts.
ist aber nicht so leicht!!!
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich kann verstehen, dass Sie in einer schwierigen und belastenden Situation sind. Das ist sicherlich alles andere als leicht auszuhalten.
Wir hoffen, mit unseren Blogartikeln interessante Infos zu verschiedensten Themen rund um eine Krebserkrankung zu liefern. Zeitnah wird noch ein weiterer Artikel zum Thema „Progredienzangst“ mit praktischen Alltagstipps und Unterstützungsmöglichkeiten erscheinen.
Sie dürfen sich natürlich trotz Ihrer für Sie wenig hilfreichen Erfahrungen mit PsychoonkologInnen – falls Sie möchten – jederzeit an unsere Krebsberatungsstelle für einen Beratungstermin wenden.
Viele Grüße und alles Gute,
Sarah Schuster
Krebs ist eine Krankheit, wie jede andere körperliche Störung (z. B. ein Beinbruch). Mann kann es gut behandeln. Die Chemos sind auch nicht mehr so schlimm.Das einzige was für mich schlimm war sind die neuropathischen Störungen an den Füßen und der Haarausfall.
meine Diagnose:Ovarialkartinom – ausgedehnte peritonealkarzinose. stadium 3 c. meine behandlung 6 chemos mit carboplatin/patlitaxel, danach op mit neoadjuvante chemo.Weiter werde ich mit 1mal täglich zejula behandelt. Bei jeder Untersuchung sind meine Ergebnisse hervorragend. meine Bluwerte sind super, nächste Woche kommt der Port raus, auf eigenen Wunsch. Warum sollte ich auf was warten, was gar nicht eintreffen muss.Ich hatte keine Minute vor dieser Diagnose Angst und ich schau freudig nach vorne. Man muss den Patienten eben mehr solche Geschichten erzählen. Dann ist alles bestens.
liebe Grüße
Vielen Dank für Ihren Kommentar zu diesem Blog.
Jede Situation und der Umgang damit ist sehr individuell. Ich freue mich zu hören, dass Sie einen Umgang mit Ihrer Situation gefunden haben.
Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute.
Viele Grüße,
Sarah Schuster