Der gesamte Text wurde von Regine Kramer für das Magazin von lebensmut e.V.
verfasst und ist auf der lebensmut e.V. Homepage abrufbar: www.lebensmut.org
Viele von Krebs Betroffene interessieren sich für komplementäre Medizin. Sie wollen aus der Untätigkeit herauskommen und etwas für sich tun – oder wollen
nichts auslassen, was vielleicht gegen den Krebs helfen könnte. Wolfgang Doerfler leitet die „Beratungsstelle Komplementärmedizin und Naturheilkunde“ am Tumorzentrum München im Patientenhaus des Comprehensive Cancer Center München (CCC München). Er berät auf der Grundlage gesicherten Wissens zur Wirksamkeit und individuellen Anwendung komplementärer
Therapien. Seit Jahren erlebt er eine steigende Nachfrage und Interesse, nicht
nur von Patienten und Angehörigen, sondern auch aus der Ärzteschaft.
Herr Doerfler, was genau ist komplementäre Medizin?
Die Komplementärmedizin umfasst ein breites Spektrum an Praktiken, Wissen und Erfahrung oftmals aus Denkschulen und Kulturkreisen, die den ganzen Menschen in den Blick nehmen. Sie erweitert den Medizinbegriff auf den ganzen Menschen, Körper und Seele. Während der Krebsbehandlung zielt sie darauf, die Wirkung der Therapie zu optimieren, Krankheitssymptome und Nebenwirkungen der Behandlung, wie Übelkeit oder Fatigue, zu lindern und den Menschen ganzheitlich zu stärken. Nach Abschluss der Behandlung unterstützt sie die Betroffenen dabei, selbst aktiv einer Wiedererkrankung vorzubeugen und die Lebensqualität zu verbessern.
Welche unterschiedlichen Behandlungsmethoden und Wirkstoffe umfasst sie?
Die Angebote lassen sich in vier Kategorien fassen. Da sind zunächst Einzelsubstanzen, auf die insgesamt am häufigsten zugegriffen wird, z. B. Selen, Curcumin oder Vitamin D. Weiter zu nennen sind Therapien mit komplexen Präparaten, wie Heilkräutermischungen oder Misteltherapie, sowie Therapiesysteme, zu denen die Traditionelle Chinesische Medizin, Ayurveda oder die westliche Naturheilkunde gehören. Diese umfassen meist auch Bereiche der „Lebensstilmedizin“, die auf dem gegenseitigen Einfluss von Körper und Psyche beruht, sowie auf Entspannungs- und Meditationstechniken, Ernährungs- und Bewegungskonzepte.
Zur Wirkung komplementärer Medizin gibt es wenig verlässliche Daten. Was sollten interessierte Patienten wissen, die sich begleitende Maßnahmen neben ihrer onkologischen Therapie wünschen?
Zunächst sollten Interessierte wissen, dass zwar die Wirksamkeit der meisten Wirkstoffe und Methoden der komplementären Medizin noch immer nicht klar belegt ist, aber daran geforscht wird. In Teilen liegen auch schon belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse vor. Zudem kann man auf die Praxis der Erfahrungsmedizin zurückgreifen. Deren Erkenntnisse spiegeln sich zwar noch nicht in großen, randomisierten Studien wider, haben aber in kompetenten Händen dennoch ihren Wert. Was an belastbaren wissenschaftlichen Daten vorliegt, ist in der neuen S3 Patientenleitlinie zum Thema Komplementärmedizin zusammengestellt. Sie markiert einen großen Fortschritt in Sachen seriöse Information und Orientierung für Interessierte und Betroffene.
Wie können an Krebs Erkrankte die Patientenleitlinie Komplementärmedizin nutzen?
Die Leitlinie gibt Informationen und Empfehlungen zu einer Auswahl an komplementären Verfahren, die weit verbreitet sind und zu denen Daten vorliegen. Übrigens wird sie laufend aktualisiert und erweitert – und ist ein praktischer Ratgeber für die schnelle Orientierung ebenso wie für einen guten Überblick über die Komplementärmedizin.
Oft werden komplementäre Medizin und Alternativmedizin in einem Atemzug genannt.
Wasunterscheidet sie?
Tatsächlich unterscheiden sich komplementäre und alternative Medizin weniger in den Praktiken und angewendeten Wirkstoffen als in der Zielsetzung. Während die Komplementärmedizin die konventionelle Krebstherapie begleitet und unterstützt, versteht sich die Alternativmedizin als Ersatz bzw. in Konkurrenz zur Schulmedizin. Vorsicht also, wenn Komplementärmedizin im Sinne einer Alternativmedizin angewendet wird und an die Stelle der onkologischen Haupttherapie treten soll.
Die Wirkstoffe der komplementären Medizin gelten landläufig als sanft, natürlich und weniger belastend. Ist das wirklich so?
Das ist eine gute Frage. Es trifft ganz gewiss nicht zu, dass alle Wirkstoffe der komplementären Medizin nur Gutes tun. Wo eine Wirkung ist, gibt es immer auch die Möglichkeit einer Nebenwirkung bzw. Wechselwirkung mit anderen Therapien!
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Nehmen wir das populäre Kurkuma, nach dem ich oft gefragt werde. Sein Inhaltsstoff Curcumin zeigt im Labor viele gute Eigenschaften, hemmt Entzündungen und auch Tumorzellen, gerade bei Brustkrebs. Doch vom Versuch im Reagenzglas kann man nicht auf die Wirkung beim Menschen schließen. Wieviel Kurkuma nötig wäre, um eine pharmakologische Wirkung zu erzielen, weiß man bis heute nicht genau. Es handelt sich jedenfalls um solch große Mengen, dass man sie nur in konzentrierter, aufbereiteter Form einnehmen kann. Solch unphysiologische Dosen können nicht nur zu Magen-Darm-Unverträglichkeit, Übelkeit oder Blähungen führen. Wird hochkonzentriertes Curcumin während einer Chemotherapie eingenommen, greift es zudem derart in den Leberstoffwechsel ein, dass diese in der Wirksamkeit bzw. Toxizität beeinträchtigt wird. In diesem Fall beeinträchtigt die als Unterstützung gedachte Maßnahme also die Haupttherapie. Deshalb sollte man Wirkstoffe und Anwendungen, wie Kurkuma oder auch eine Misteltherapie, nicht unabgesprochen während der aktiven Therapie einnehmen.
Was kann komplementäre Medizin nach der Krebsbehandlung bewirken?
Sie kann präventiv schützen, also der Wiedererkrankung vorbeugen. Wissenschaftlich untermauert ist hier etwa die Bedeutung einer ausreichenden Vitamin-D3Versorgung und insbesondere regelmäßiger, moderater Ausdauerbewegung. Eine frische, abwechslungsreiche Ernährung kann die Gesundheit allgemein sowie die Lebensqualität fördern. Hinzu kommen die geistigseelische Unterstützung durch Stress reduzierende Methoden, Meditation oder – warum nicht – Glaubenspraktiken. Hier gilt die Prämisse: Schadet nicht, nutzt möglicherweise. Insgesamt geht es also weniger um einzelne Maßnahmen, als um einen ganzheitlichen Ansatz, wie ihn die westliche und östliche Naturheilkunde verfolgen.
Vorhin sagten Sie, dass Patienten in jedem Fall vor einer komplementärmedizinischen Anwendung mit ihrem Arzt reden sollten?
Ja, unbedingt. Aber das geschieht viel zu selten.
Warum?
Laut Umfragen sind es vor allem drei Gründe: Die Betroffenen befürchten, dass sie mit dem Thema Komplementärmedizin nicht ernst genommen werden, oder dass diese Frage womöglich negative Auswirkungen auf ihre Behandlung hat. Auch der Zeitmangel der Ärzte spielt eine Rolle.
Ist das auch so? Was berichten Patienten, die Sie beraten?
Tatsächlich kommt mir kaum noch zu Ohren, dass Ärzte bei dem Thema Komplementärmedizin rundum ablehnend reagieren. Vor vier, fünf Jahren war das noch anders. Ich habe den Eindruck, dass hier eine Öffnung stattfindet. Dies hat vielleicht auch mit der S3-Leitlinie zur Komplementärmedizin für Onkologen, Fach- und Hausärzte zu tun, die im selben Jahr wie die Patientenleitlinie erschienen ist. Übrigens bekomme ich heute die meisten Patientenzuweisungen von ärztlichen Kollegen aus verschiedenen Kliniken. Auch das war vor ein paar Jahren noch anders. Deshalb ermuntere ich die Patienten auch, ihren Arzt anzusprechen, wenn sie eine Frage haben.
Warum ist das Gespräch mit dem behandelnden Arzt so wichtig?
Mit dem Arzt über die Anwendung komplementärer Therapien zu sprechen, ist nicht nur wichtig für das gute Vertrauensverhältnis, sondern auch für die eigene Sicherheit. Ebenso wie Curcumin gibt es eine Reihe anderer Substanzen, welche die Wirkung der Krebstherapie negativ beeinflussen können, entweder, indem sie deren Wirkung abschwächen oder toxisch verstärken. Dieses Thema ist nicht zu unterschätzen. Hier muss sich noch eine Gesprächskultur entwickeln, gerade auch auf ärztlicher Seite. Das könnte damit beginnen, dass Patienten gleich beim Erstbesuch in der onkologischen Praxis oder auf Station im Krankenhaus ein Formular erhalten, welches das Interesse an Komplementärmedizin abfragt und darum bittet, eine eventuelle Eigeninitiative anzusprechen.
Ist das Interesse an Komplementärmedizin bei Männern und Frauen gleich groß?
An diesem Thema kann man sehen: Es gibt deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen. 80 Prozent meiner Patienten sind Frauen – diese Zahl deckt sich auch mit anderen Umfragen. Und leider hat sich hier in den letzten Jahren nichts verändert.
Vielleicht sind Männer skeptischer, wenn Zahlen und belastbare Wirksamkeitsnachweise rar sind?
Das kann sein. Und leider gibt es über die ganze Breite der komplementärmedizinischen Maßnahmen noch immer viel zu wenig evidenzbasierte Aussagen, auch wenn sich dies langsam ändert. Aber vielleicht kann auch hier die Patientenleitlinie etwas Positives bewirken. Zu wissen, dass ein Wirkstoff oder eine Maßnahme nicht schadet, aber möglicherweise nützt, ist schon eine Menge, wenn man für sich selbst und gegen den Krebs aktiv werden möchte.
sehr gute konzentrierte Information zum Thema.
mir fehlt nur die S3-Patientenleitlinie und die S3
Leitlinie zur komplementärmedizin.
Harald Frey
Sehr geehrter Herr Frey,
es freut mich, dass Sie das Interview als hilfreich erleben. Die S-3 Leitlinie ist tatsächlich ein Meilenstein, selbst wenn auch sie weiterhin viel Interpretationsspielraum für die bisher (nicht-) existenten wissenschaftlichen Daten zur Anwendung von Komplementärmedizin/Naturheilkunde bei onkologisch erkrankten Menschen lässt. Die Leitlinie ist im Interviewtext unter der dritten Frage von mir beschrieben worden.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Doerfler
Vielen Dank für das Interview, ich habe selbst die Erfahrung, dass Onkologen nicht auf mein Interesse an Komplimentärer Medizin reagiert haben. „Nicht notwendig“!
In einem direkten Gespräch mit Herrn Dörfler bekam ich gute Hinweise.
Vielen Dank für Ihren Kommentar und dass Ihnen die komplementärmedizinische Beratung weitergeholfen hat. Es ist tatsächlich so, dass das Interesse und der damit verbundene Kenntnisstand zur Komplementärmedizin in der Onkologie, noch recht „durchwachsen“ ist. Es ist innerhalb der Ärzteschaft im Allgemeinen jedoch eine Öffnung gegenüber der Thematik zu beobachten. Und: haarspalterisch ausgedrückt, ist die Komplementärmedizin tatsächlich nicht „notwendig“ ist, sondern vielmehr eine mögliche und sinnvolle Ergänzung zu den onkologischen Haupttherapien und in der Nachsorge.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Doerfler